Erinnerungskultur – der Düsseldorfer Philosoph Viktor Rintelen

Erinnerungskultur

 Rede des Düsseldorfer Philosophen Viktor Rintelen

Beitrag des NDC Germany zum Symposium in Bonn am 18. August 2018

Sehr geehrte Damen und Herren,

herzlichen Dank, dass ich Ihnen etwas über die Erinnerungskultur vortragen darf, einen Begriff, der mir nicht nur intellektuell, sondern auch emotional wichtig ist.

Erinnerungskultur ist ein zusammengesetztes Hauptwort, ein Kompositum, dessen Grundwort – Kultur – ich durch eine Betrachtung des Bestimmungsworts – Erinnerung – erläutern und konkretisieren möchte. Das werde ich in fünf Aspekten durchführen:

– Erinnerung und Gedächtnis,

– Erinnerung und Geschichte,

– Erinnerung und Gesellschaft,

– Erinnerung und Zukunft,

– Erinnerung und Kunst.

Zunächst also zur Unterscheidung zwischen Erinnerung und Gedächtnis.

Seit der griechischen Antike wird das Gedächtnis als psychologisches Vermögen des Behaltens von Vorstellungen im zeitlichen Zusammenhang unterschieden von der Erinnerung. Diese nämlich ist nach Platon die Fähigkeit der menschlichen Seele, sich auf die vorgeburtliche Teilhabe an der Ideenwelt zu besinnen. Mit der Durchquerung der Lethe, des Flusses des Vergessens, durch die Geburt verliert der Mensch die Schau der Ideenwahrheit. Lernen bedeutet daher, sich wiederzuerinnern. So heißt dann auch Wahrheit im Altgriechischen „a-letheia“.

Halten wir fest: Wichtig für unsere Betrachtung ist, dass Erinnerung etwas mit Wahrheit zu tun hat.

Nächster Aspekt: Erinnerung und Geschichte

Denis Diderot lehrt in seiner Enzyklopädie, dass alles, was nicht der raison oder imagination zugehört, zum Gebiet der Geschichte gehört und damit der Erinnerung. Herder betont hier die Bedeutung der Sprache: Die Entwicklung der Seelenkräfte bis zu ihrer höchsten Stufe ist das Ziel der Bildung zur Humanität, die die Philosophie der Geschichte darstellt. Allerdings ist die Geschichte dieser Bildung nicht anders möglich als durch Sprache, indem sie die Erkenntnisse der Anschauung „durchs Wort dem Gedächtnis, der Rück-Erinnerung, dem Verstande, ja endlich dem Verstande der Menschen, der Tradition, einverleibt“ [1].

Halten wir fest: Erinnerung lebt in der Sprache, ohne die weder Geschichte noch Bildung möglich ist. Die Pflege der Tradition ist darauf angewiesen, dass wir mit der Sprache sorgsam umgehen.

Das Denken von Geschichtsentwürfen hat unmittelbaren Einfluss auf die politische Philosophie, die Theorie der Gesellschaft. Ich bin also beim Aspekt Erinnerung und Gesellschaft.

Der Großphilosoph des Deutschen Idealismus, G.W.F. Hegel, entwirft Geschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Geschichte und Wissenschaft des erscheinenden Wissens müssen einander durchdringen. „Beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes.“ [2] Der Hegelianer Karl Marx behält den Geschichtsoptimismus bei, sieht den Freiheitsfortschritt aber in der Befreiung der Wesenstätigkeit des Menschen, nämlich der Arbeit, von kapitalistischer Ausbeutung.

Die Philosophie des 20. Jahrhunderts spricht von der Geschichtslosigkeit der modernen Gesellschaft. Joachim Ritter meint, dass die Geisteswissenschaften das Organ sind, das die Geschichtslosigkeit kompensiert und derart Leben und Wissenschaft miteinander vermittelt.

Verdrängung von Erinnerungen ist für den Psychiater S. Freud eine wesentliche Ursache seelischer Erkrankungen. Mit der politischen Interpretation Freuds durch die Frankfurter Schule wird der Begriff Erinnerung als kritischer Maßstab für die Veränderung der Gesellschaft angewendet. Der Wahrheitsgehalt der Erinnerung besteht in ihrer Funktion, (Zitat Herbert Marcuse) „Versprechungen und Möglichkeiten zu bewahren, die vom erwachsenen zivilisierten Individuum zwar verleugnet … werden, die aber in seiner dämmrigen Frühe einmal erfüllt worden waren und niemals ganz dem Vergessen anheimfielen. … Die recherche du temps perdu wird zum Vehikel künftiger Befreiung“ [3]

Halten wir fest: Die politische Philosophie der Gegenwart blickt auf Ereignisse des 20. Jahrhunderts, welche den Geschichtsoptimisten ihre Argumentationsgrundlage zerstört haben. Weltkriege, Atombomben, Holocaust – statt des Reichs der Freiheit zeichnet sich globaler Schrecken ab. Die kollektive Verdrängung dieser Gefahr macht eine Gesellschaft krank.

Damit drängt sich die Frage nach der Zukunft auf.

Ernst Bloch, der Philosoph der Hoffnung, bringt den Begriff Besinnung ins Spiel. (Sie erinnern sich an Platons Konzept der sich besinnenden Seele auf der Suche nach der Wahrheit.) Erinnerung und Hoffnung, so Bloch, erscheinen von ihrem Ausfall im Vergessen her der Besinnung gleich: „Erinnerung [erscheint] als Mahnung, Hoffnung als Eingedenken; beides ist im Gewissens-[bezug], Wissensbezug auf ein Unterlassenes, Unbesorgtes, zu Besorgendes utopisch geeint.“ [4] Ähnlich äußert sich Herbert Marcuse: „In den persönlichen Begebenheiten, die im individuellen Gedächtnis neu erstehen, setzen sich die Ängste und Sehnsüchte der Menschheit durch – das Allgemeine im Besonderen. Die Geschichte ist es, die die Erinnerung bewahrt…“ [5] Marcuses Freund Th.W. Adorno gibt aber zu bedenken: „Keine Erinnerung [ist] garantiert, an sich seiend, indifferent gegen die Zukunft dessen, der sie hegt; kein Vergangenes … gefeit vorm Fluch der empirischen Gegenwart. Die seligste Erinnerung … kann ihrer Substanz nach widerrufen werden durch spätere Erfahrung.“ [6]

Halten wir fest: In der Zukunft liegt das noch nie Dagewesene, auch die Utopie einer versöhnten Gesellschaft, nach der sich die Menschen sehnen. Erinnerung kann diese Sehnsucht bewahren und damit den gegenwärtigen Gefahren trotzen.

Worin, so frage ich mich abschließend, findet Utopie ihr Medium, das sie im Bewusstsein der Menschen wach hält? Eine Antwortmöglichkeit sehe ich in der Kunst.

Seit den Tagen des Deutschen Idealismus existiert der Gedanke, dass Dichtung etwas mit Erinnerung zu tun hat. Hölderlin begreift die Tragödie als reproduktiven Akt der idealischen Auflösung ursprünglichen Lebensgefühls [7]. Hölderlins idealische Gewissheit hat sich bis heute in der Utopie bewahrt. Während frühere authentische Kunstwerke noch die Versöhnung der Menschen miteinander beschwören konnten – man denke an Beethovens Vertonung der „Ode an die Freude“ von Schiller – , ist die moderne Kunst zumeist auf einen dialektischen Umschlag im Gemüt der Rezipienten angewiesen. Man denke an den Ausdruck tiefsten Entsetzens in E. Munchs „Der Schrei“. Das Bild kann die Erinnerung des Betrachters an die Sehnsucht nach Erlösung evozieren.

Halten wir fest: Die Kunst steht ein für die Möglichkeit des Möglichen. Die Skulptur des Ehepaars Kim – Mädchenstatue für den Frieden – bildet hier keine Ausnahme.

Vielen Dank, sehr geehrtes Publikum, für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Bibliografische Nachweise:

[1] J.G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91) IX, 2 = WS 13, S.357

[2] G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg J. Hoffmeister (1952), S.564

[3] H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft (1968), S. 24f.

[4] E. Bloch, Philosophische Grundfragen I (1961), S. 79

[5] H Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1967), S. 117f.

[6] Th.W. Adorno, MinimaMoralia (1962), S. 219

[7] vgl. F. Hölderlin, Verfahrungsweise des poetischen Geistes, Werke hg. F Beissner (1961) IV,1 Das Werden und Vergehen, S.283f.